Die Ungarnhäuser in der Reifenwerksiedlung
Die Ungarn- oder Hühnerleiterhäuser (Hans-Jürgen Woldt)
Fehlinvestition, Bausünde oder Architekturdenkmal
Wohl jeder Fürstenwalder hat irgendeine Beziehung zur Reifenwerksiedlung in Fürstenwalde Süd, und wohl jeder hat schon mehr als einmal den Begriff „Ungarische Häuser“ oder „Hühnerleiterhäuser“ gehört. Auch ich habe mehrere Jahre in einem solchen Haus gewohnt, ohne mir Gedanken über die Herkunft dieser Bezeichnungen zu machen, bis mich im Mai 2021 eine E-Mail des Vereins für Heimatgeschichte Fürstenwalde erreichte. In dieser wurde ich gefragt, ob ich bei einem Besuch des Ehepaars Höhne aus Berlin anwesend sein könnte. Sie forschen über das Leben eines beinahe vergessenen Architekten, Robert Lenz, und waren zufällig auf die Reifenwerksiedlung in Fürstenwalde (Ketschendorf) gestoßen. Günter und Claudia Höhne beschäftigen sich seit vielen Jahren mit dem Thema DDR-Industriedesign und DDR-Architektur. Sie betreiben eine eigene Website mit massenhaft Informationen zum Thema und haben etliche Bücher veröffentlicht. Umso spannender war diese Begegnung sowohl für mich als auch für Guido Strohfeldt vom Museum Fürstenwalde. Übrigens stammt ein großer Teil der Designsammlung in der Pinakothek der Moderne in München aus ihrer Sammlung. Aus Andeutungen in den E-Mails der Höhnes konnten wir vage auf die „Ungarnhäuser“ schließen, wollten aber nicht recht daran glauben, dass wir hier in unserem Fürstenwalde ein nahezu im Urzustand belassenes und komplett erhaltenes Ensemble der Bauhausarchitektur – und dann noch von einem namhaften, aber beinahe vergessenen Architekten – besitzen. Der Grund für die Annahme der Höhnes, hier in Fürstenwalde fündig zu werden, war eine undatierte Zeitungsnotiz in einer (wahrscheinlich thüringischen) Zeitung, die von der Übergabe dieser ersten Wohnungen in Ketschendorf berichtete und auch auf ein ähnliches Objekt in Hennigsdorf bei Berlin verwies. Unsere späteren Recherchen ließen die Datierung des Artikels auf den 9. Oktober 1950 zu, weil auch in der Chronik des Reifenwerkes die Übergabe der Wohnungen mit Sonnabend, den 7. Oktober, angegeben ist. Seltsamerweise ist in der Fürstenwalder Zeitung „Neuer Tag“ weder über den Planungs- und Baubeginn noch über die Übergabe der ersten und die Fertigstellung aller Wohnungen auch nur ein einziges Wörtchen zu finden. Auch auf den Planer und Architekten finden sich keinerlei Hinweise, was uns zunächst stutzig machte, war doch Wohnraum unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein so kostbares Gut, dass man doch mit einer Erwähnung rechnen musste. Ein wenig mehr Licht in das Dunkle der Geschichte brachten die Informationen, die uns das Ehepaar Höhne zu unserem gemeinsamen Treffen am 19. Mai 2021 mitbrachte. Daraus und aus unseren weiterführenden Recherchen ergibt sich das folgende, aber immer noch vorläufige Ergebnis: Etwa im Jahr 1948 wurde der Architekt Robert Lenz, der bereits eine ähnliche Siedlung in Hennigsdorf konzipiert hatte, mit der Planung und Durchführung des Baus einer Arbeiterwohnsiedlung in Ketschendorf (Reifenwerksiedlung) beauftragt. Im Bild oben sieht man den Planungsentwurf für einen Typ der Häuser. Man kann erkennen, dass Lenz bereits in der Planung überdachte und geschlossene Treppenaufgänge in die oberen Wohneinheiten vorsah. Das gilt auch für die ersten Häuser des anderen Typs, mit etwas größeren Wohnungen, wie neu aufgetauchte Bilder aus der Bauphase um 1950 zeigen. Hier waren mittig überdachte Treppenaufgänge flankiert von überdachten Balkons in der oberen Etage vorgesehen.
Hühnerleitern, wie später angebracht, waren in keinem der Entwürfe vorgesehen, aber es gab Gründe für deren späteres Auftauchen, die nicht durch Lenz zu verantworten waren. Die tatsächlichen Ursachen lagen in dem aus der Nachkriegszeit resultierenden permanenten Material- und Arbeitskräftemangel. Ein weiterer Grund war die in den frühen 1950er Jahren einsetzende Formalismusdebatte, die ihre Ursachen in der aufkommenden stalinistischen Architekturauffassung hatte und die das Bauhaus und seine Schüler, wie auch Lenz einer war, ablehnte. Zur gleichen Zeit wurde in Stalinstadt der erste Wohnkomplex – ebenfalls in angelehnter Bauhausarchitektur – errichtet. Die dort, wie auch in Fürstenwalde tätigen ungarischen Maurerbrigaden (Ungarnhäuser), sowie das Baumaterial wurden den Parteiprioritäten untergeordnet und wahrscheinlich nach Stalinstadt umgeleitet. Im Jahre 1953 beschwerten sich die Fürstenwalder Reifenwerker beim Ministerium für Aufbau in Berlin, das für alle Bauvorhaben in der DDR die Verantwortung trug, darüber, dass die bereits 1950 versprochenen Wohnungen wegen des Mangels an Material immer noch nicht bezugsfertig wären. In der Folge wurden die geplanten, noch nicht gebauten Häuser zunächst provisorisch umgeplant und abgespeckt, was zur Errichtung der verlachten „Hühnerleitern“, aber auch zu schweren Konflikten mit Robert Lenz geführt haben dürfte.
Ähnliches ist aus Hennigsdorf bekannt, hier konnte sich die Stadt aber durchsetzen. Erst 1954 konnten die letzten Wohnungen übergeben werden. Robert Lenz war zu diesem Zeitpunkt längst entlassen und kam, wie vorhandene Dokumente beweisen, in der DDR nicht mehr auf den „Grünen Zweig“. Die 40-jährige Verwaltung der Wohnungen durch das Reifenwerk hatte höchstwahrscheinlich zur Folge, dass außer dem späteren Ersatz der „Hühnerleitern“ durch die von Lenz geplanten, überdachten Treppenaufgänge, der komplette Bestand von knapp 200 Wohnungen in 12 Häuserblocks genau wie errichtet, erhalten blieb. Nach 1989 wurden zwar Fassaden-, Dach- und Wohnungssanierungen durch neue Eigentümer vorgenommen, aber der Siedlungscharakter der von Lenz geplanten Häuser und zum Teil sogar die Wohnungsgrundrisse sind heute beinahe original vorzufinden. So gesehen, war es keine Fehlinvestition, und bei nahezu kompletter Vermietung kann man nach über 70 Jahren auch nicht von einer Bausünde sprechen. Man hat sich halt später etwas einfallen lassen. Bis heute sind diese Wohnungen begehrt und fast 100%ig vermietet.